Wie Du bestimmst, wie andere mit Dir umgehen
Es ist Meeting, endlich bist Du auch an der Reihe, Du hast allen anderen aufmerksam zugehört und auch der Kollege, der gerade spricht, scheint zum Ende gekommen zu sein…zumindest glaubst Du das. Er hat entspannt ausgeatmet und schaut Dich erwartungsvoll an. Du fängst also an mit deinem Beitrag und hast noch keine drei Sätze sagen können, als Dein Kollege bereits wieder Luft holt und einfach in Deinen Vortrag reingrätscht. Ohne mit der Wimper zu zucken. Und natürlich ohne zu fragen.
Du sagst nichts, bist aber verärgert und kannst daher auch gar nicht richtig zuhören. „Woher nimmt sich der Kerl das Recht, mich zu unterbrechen? Es scheint ihn gar nicht zu interessieren, was ich zu sagen habe!“ Und schon beginnt das Täter – Opfer – Karussell, das Dir – dem vermeintlichen Opfer – den Raum nimmt. Dein abschließendes Urteil: „Ein blöder, rücksichtsloser Kerl“.
Aber ist das wirklich so? Schauen wir mal genauer hin und untersuchen die damit verbundene Zirkularität:
Denn theoretisch bedeutet es, dass einen Grund geben muss, warum der Kollege Dich unterbricht. Und vor allem trägst Du daran eine Mitverantwortung, eine Zirkularität, wie sie Schulz von Thun beschreibt (Schulz von Thun/ Ruppel/ Stratmann 2003). Somit kann es nur zwei Erklärungen geben, die sich gegenseitig ausschließen – aber welche trifft zu?
Du ohne Mitverantwortung: Der andere hat sich, unabhängig von Deinem Verhalten, das Recht zur Unterbrechung herausgenommen, es hat also nichts mit Dir zu tun. Du wurdest einfach unterbrochen, der Kollege als Täter ist allen verantwortlich und Du, als Opfer, trägst daran keinerlei Mitverantwortung.
Du mit Mitverantwortung: Der Kollege hat Dich unterbrochen, weil Du vorher bestimmte Signale gesandt hast, die ihn zu eigeladen haben. Dabei ist es egal, ob das bewusst, unbewusst, absichtlich, unabsichtlich, verbal oder nonverbal geschehen ist. Der Kollege ging aufgrund Deines Auftretens davon aus, dass er Dich unterbrechen durfte und auch damit durchzukommen. Somit tragen beide gleichermaßen Verantwortung für das Geschehene, Du bist also kein Opfer, sondern der „Unterbrechungseinlader“.
Und welchem Ansatz würdest Du jetzt zustimmen? Ich würde Erklärung 2 als richtig erachten und mich damit der Systemtheorie anschließen, wonach Elemente eines Systems miteinander interagieren und sich über Rückkopplungsschleifen gegenseitig beeinflussen. Wenn A beispielsweise ein Verhalten zeigt, das B ermöglicht, eine Tat zu begehen, die für B mit Vorteilen verbunden ist, wird B diese Tat aus Eigenmotivation heraus umsetzen. Es sei denn sie erhält von A oder einem anderen Akteur zusätzliche gegenteilige Anreize, die stärker sind als der Ausgangsreiz von A. Es hängt also stark von den positiven und negativen Anreizen der einzelnen Systemelemente ab, wie sich das System als Ganzes letztlich entwickelt.
Wenn man diese theoretischen Ansätze auf den oben geschilderten Fall überträgt, so lässt sich die zentrale Frage so formulieren: „Was genau hast Du getan (oder nicht getan), dass der andere denkt, er dürfe Dich einfach so unterbrechen? Denn: Hättest Du ihm andere Signale gesendet (zum Beispiel ein strenger Blick, ein auffällig lautes Räuspern oder auch eine entschlossene Frage wie »Unterbrichst Du mich gerade?«), er hätte es sein lassen.
Ob Du es wahrhaben willst oder nicht: Niemand außer Dir hat ihm die Erlaubnis gegeben. Und falls es doch eine andere Person gewesen sein sollte: Wie kommt diese Person zu der Auffassung, man dürfe Dich so behandeln? Du kannst es drehen und wenden, wie Du willst: Es liegt ausschließlich an Dir – Nur Du allein gibst vor, wie andere mit Dir umgehen dürfen. Das ist für die meisten ein schmerzhafter Gedanke. Denn in der Praxis bedeutet das, es erfolgt kein unerwünschtes Verhalten ohne Dein vorheriges Zutun.
Wie kannst Du dir diese neue Erkenntnis zunutze machen? Und welche Schwierigkeiten lauern bei der Umsetzung?
Nur Du legst die für Dich passenden Grenzen fest
Wie und woher soll Dein Gegenüber wissen, wie weit er gehen kann, wenn Du das selbst nicht definieren kannst? Kläre daher zunächst für Dich, welches Verhalten Du von anderen Menschen akzeptieren beziehungsweise gerade noch akzeptieren möchtest. Mit dieser neuen Klarheit legst Du anschließend Deine persönlichen Grenzen fest. Du weißt jetzt genau, bis zu welchem Punkt Du Deinem Gegenüber gehen lässt, und wann Du ihn spätestens stoppen wirst. Und das geschieht dann sehr entschlossen: „Bis hier und keinen Schritt weiter!“ Mit diesem selbstfürsorglichen Koordinatensystem vor Augen bist Du gut aufgestellt, Deine Grenzen immer und überall absichern zu können. Allerdings: Eindeutig zu wissen, wo die Grenze beginnt, ist eine notwendige Voraussetzung, aber noch keine hinreichende. Dazu braucht es noch etwas:
Mach es richtig: Setze Worte, Stimme und Körpersprache gezielt ein
Einerseits ist es wichtig, sich seiner Grenzen bewusst zu sein, andererseits aber entscheidend, bei deren Überschreitung auch wirklich etwas zu tun. Das geht verbal mit Worten, paraverbal über die Tonalität oder nonverbal mittels Körpersprach). Je stimmiger diese drei Kommunikationskanäle zusammen eingesetzt werden, desto wirkungsvoller ist Dein Feedback. Sollte jemand sie trotzdem übertreten wollen, frage Dich, wann oder wo Du es versäumt hast, den anderen auf Deine Grenzen aufmerksam zu machen. Kannst Du in diesem Versäumnis und dem Verhalten des anderen vielleicht auch die Zirkularität erkennen?
Aber Achtung, so mancher verwechselt Schweigen mit Zustimmung
„Wenn der andere sich nicht explizit wehrt, muss mein Verhalten wohl okay sein.“ Offenbar denken sehr viele Menschen so, daher verfahre nach dem Grundsatz: „Wehret den Anfängen.“ Sobald irgendjemand irgendeine Minigrenze von Dir überschreitet, zeige ihm diese deutlich auf. Bring ihm unmissverständlich in Erinnerung, dass er sich gerade im Ton vergriffen hat.
Dieses neue Verständnis von Zirkularität hilft in Zukunft, gut für Dich zu sorgen und Verantwortung zu übernehmen. Klar ist es einfach, dem anderen die alleinige Schuld für etwas zu geben, aber nun weichst Du Deiner Verantwortung nicht länger aus und zeigst nicht mehr mit dem Finger auf dein Gegenüber. Du akzeptierst, dass es auch an Dir liegt. Denn wer schweigt, darf sich nicht wundern, dass andere das für Zustimmung halten. Und wer alles schluckt, darf sich nicht wundern, wenn ihm andere immer wieder einen einschenken. Und überhaupt: Wer den Anfängen nicht wehrt, darf sich nicht wundern, wenn sich was Größeres zusammenbraut.
Es geht um Verantwortung – und zwar zweimal: Einmal, wenn dein Gegenüber lediglich testet, wie weit er bei Dir gehen kann. Und das nächste Mal, wenn er tatsächlich zu weit gegangen ist. Erkenne an, dass Du als Teil des Ganzen zu jedem Zeitpunkt mitbestimmst, wie sich das System entwickelt. Und frage Dich, welche Einladung Du möglicherweise ungesagt aussprichst. Du bist nie unschuldiges Opfer, du bist immer auch Mittäter.